Ein Instrument mit Charakter

Die große Klais-Orgel von 1962

Unmittelbar nach Beginn des Wiederaufbaus der Klosterkirche wird auch schon der Bau einer Orgel angedacht. Früheste konkrete Überlegungen seit Mitte der fünfziger Jahre sahen eine in West- und Chororgel geteilte Orgelanlage vor. Schließlich wird jedoch das südliche Querschiff als günstigster Standort einer neuen Orgel bestimmt, da aufgrund der räumlichen Nähe zum Zelebrationsaltar und dem Chorgestühl der Mönche die liturgischen Funktionen von dieser Position aus optimal zu erfüllen sind. Außer Frage stand von da an auch die Auftragsvergabe an die traditionsreiche rheinische Orgelbaufirma Johannes Klais in Bonn. 1959 schreibt Paul Smets an den damaligen Abteiorganisten Pater Raimund van Husen: ..Es gibt einfach keinen Orgelbauer in Deutschland, bei dem Ihre Interessen in besseren Händen sein würden als bei Klais.“ (Paul Smets in einem Schreiben vom 16. Februar 1959 an Pater Raimund van Husen) Diverse Dispositionsvorschläge und Prospektentwürfe seitens des Hauses Klais dokumentieren in den folgenden Jahren nicht zuletzt das konstruktive Streiten um ein „vollkommenes“ Instrument, dessen endgültige Disposition am 20. Oktober 1961 schließlich feststand. Pater van Husen suchte zu dieser Zeit unentwegt Rat bei namhaften deutschen Organisten und Orgelexperten und adressierte bis zuletzt – selbst als man im Hause Klais längst mit den Arbeiten begonnen hatte – Änderungsvorschläge nach Bonn. Am 9. September 1962 fand dann im Beisein kirchlicher und politischer Prominenz die Weihe des Opus 1238 aus dem Hause Klais statt.

Der zisterziensischen Kargheit des Kirchenbaus und der schlichten Innenausstattung korrespondiert das von Josef Schäfer (Fa. Klais) entworfene Orgelgehäuse. Leicht und in sich ruhend wirkt der Aufbau mit den obellskartigen Gehäuseträgern, auf denen scheinbar schwerelos die parabelförmig nach außen schwingenden Gehäusedächer aufliegen. Der klar gegliederte, in seinen Proportionen stimmige Prospekt (Höhe: 12,40 in; Breite: 7 in) spiegelt den Werkaufbau des Instruments wider: Über dem Rückpositiv befindet sich das Hauptwerk mit seinen sichtbaren Horizontaltrompeten, darüber Schwellwerk und Oberwerk; links und rechts des Hauptwerks befin-den sich die Pedaltürme. Der 1977 eingebaute Untersatz 32′ steht auf der Rückseite hinter dem Orgelgehäuse auf Höhe der Hauptwerks- und Pedalladen. Der angebaute, seit den 1920er Jahren für Klais-Instrumente typische viermanualige Spieltisch mit seinen ergonomisch angeordneten Registerwippen, der erstmals in dieser Form für die 1923/24 erbaute Orgel der Konzerthalle auf dem Messegelände Köln-Deutz entwickelt worden war, ist zwischen Gehäusesockel und Rückpositiv positioniert. Zu den ursprünglich drei freien Kombinationen hat der seit 1976 als Abtelorganist in Hirnmerod lebende anglikanische Theologe Reverend John L. Birley eine eigene Registerschalttafel mit fünf weiteren freien Kombinationen konstruiert und selbst installiert.

Das Hauptwerk verfügt über einen lückenlosen Principalchor vom 16-Fuß bis zur hochliegenden Cymbel. Als „Gegenspieler“ zum Hauptwerk gebietet das räumlich exponierte Rückpositiv als klangliches Rückgrat über einen Principal 8′; solistische Funktionen übernehmen hier u. a. die beiden Zungen sowie das hochgebänkte vierfache Cornett.

Das überwiegend mit Solostimmen besetzte Oberwerk ist durch die unmittelbare Klangreflexion des Gewölbes von besonderer Präsenz im Raum. Durch seine füllenden Grundstimmen und zwei Zungen französischer Bauart gibt das Schwellwerk dem Gesamtklang Volumen und auch Kraft. Eingebettet in die kathedrale Akustik des imposanten barocken Monumentalraums sind es aber insbesondere die in allen Werken besetzten Flötenchöre, deren kantabel-warmer Klang dem von Josef Luthen (Fa. Klais) intonierten Instrument sein unverwechselbares, leicht romantisches Klangprofil verleihen. Von ätherisch-betörender Schönheit sind die beiden Schwellwerks-Register Viola di Gamba 8′ und Schwebung 8′, die Klais erstmals nach dem zweiten Weltkrieg in dieser Zusammenstellung hier wieder disponiert hat. Stilgeschichtlich und orgelästhetisch reiht sich das viermanualige Instrument von Himmerod neben bedeutenden Instrumenten wie der Düsseldorfer Johanniskirche (Rudolf von Beckerath), der Andreaskirche in Hildesheim (Rudolf von Beckerath) und der Augsburger Barfüßerkirche (Fa. Rieger), die in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Musterbeispiel für die gelungene Synthese von klassischer Orgelbautradition und den Herausforderungen eines zeitgemäß-modernen Orgelbaus galten, in die Reihe orgelgeschichtlich bedeutender Instrumente ein. Nicht zuletzt hat das Instrument von Himmerod in der Nachkriegszeit Orgelgeschichte geschrieben. Es markiert indessen ebenso einen klangästhetischen Wendepunkt im Hause Klais. Die sich in Himmerod bereits verhalten ankündigenden „neoromantischen Tendenzen“(Hermann J. Busch: „Zwei Generationen Orgelbau Klais 1882-1965“, in: Hans Gerd Klais (Hg.): Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Orgel, Bonn 1983, S. 174.) sollten in den Folgejahren mehr und mehr die starre Doktrin der Neobarock-Ästhetik aufweichen und schließlich weitgehend ablösen.

So unzeitgemäß die Himmeroder Orgel mit ihrer zaghaft „romantisierenden“ Tendenz im einstigen Kontext eines schreienden Spaltklang-Idioms im deutschen Orgelbau der unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte war, so unzeitgemäß ist sie scheinbar heute wieder, in einer Gegenwart, die sich allenthalben mit fantasie- und gedankenlosem Kopieren aller nur erdenklichen Stile begnügt, und dies oft genug mit nur mäßigem Erfolg. Wem es (grundsätzlich) nicht fremd ist, sich auf die Individualität eines dispositionell und klanglich in sich schlüssigen Instruments einzulassen, der findet in Himmerod eine Orgel, die musikalisch ungemein inspirieren kann, vor allem im Einklang mit der imposanten Raumakustik. So besitzt die Himmeroder Klais-Orgel – ungeachtet von Zeit und Mode – das, was man in der pluralistischen Orgellandschaft unserer Tage oft vergebens sucht: einen nonkonformistischen, unverwechselbaren Charakter!

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